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"Zeig
mal deine Muckis. Kumpel!" Wenn mich die Buben in meiner
Schwarzwälder Dorfecke derart herzerfrischend begrüßen, empfinde ich
das keineswegs als respektlos. Schließlich können sich meine Muskeln
sehen lassen, und wenn ich dann den Fußball ein paarmal aufs
Garagentor geknallt habe, darf ich meinen Spaziergang unter lautem
Hallo fortsetzen. Doch dann gerate ich ins Grübeln: Hätten wir früher
als kleine Knirpse einen alten Knaben ebenso ungeniert angequatscht?
Hat gutes Benehmen noch einen festen Stellenwert in unserer
Gesellschaft, oder macht sich lächerlich, wer darauf pocht? Daß die
Zeiten früher besser gewesen seien, wird niemand behaupten wollen, der
sich ernsthaft auf die Vergangenheit besinnt. Dennoch hat sich manches
verändert und nicht alles zum Besten. Ist etwa Benehmen Glückssache?
Gibt es noch verbindliche Spielregeln? Wo liegen die Defizite, und wie
lassen sich diese erklären?
Das Beispiel zu Anfang
markiert einen wichtigen Unterschied.
Die Jungen behandeln den Erwachsenen von gleich zu gleich. Wenn man
ihn mag, wird er begrüßt, wenn man ihn nicht mag, bleibt er unbeachtet.
Einen Anspruch auf Höflichkeit kann niemand mehr geltend machen.
Höflichkeit, so sagt man,
komme von Herzen. Das gute
Benehmen hingegen ist eine Sache der Tradition, der gesellschaftlichen
Konvention, des häuslichen Umfelds. Manieren sind anerzogen, kaum je
angeboren. Das läßt sich beobachten im Unterschied zu den Kindern
ausländischer Familien. Sie haben fast durchweg die besseren Manieren.
Jürgen Klinsmann, gewiß
kein Oldy, erzählte kürzlich beinahe
altväterlich, daß die jungen Fußballfans in England noch wüßten, wie
man "bitte" und "danke" sagt. Bei uns dagegen schnappen sie das
Autogramm und ziehen wortlos davon. Kein Wurder, daß man immer
wieder zu hören bekommt, das deutsche Volk sei das unhöflichste der
Welt. Ob das stimmt, kann jeder selbst beurteilen.
Gutes Benehmen mag eine
Sekundärtugend sein, die früher
sogar in Erziehungsdrill ausgeartet ist. Benehmen schafft Distanz,
verhindert Intimität, sorgt für Undurchschaubarkeit. Aber es macht auch
das Leben erträglicher. Es sichert gegenseitigen Respekt und löst sogar
Konflikte, wie jeder Verkehrsteilnehmer (in seltenen Fällen) bestätigen
kann.
Die Preisgabe von Takt und
gutem Ton hat auch die Garderobe
vermiest. Nach dem Motto "Kleider machen Leute. Klamotten machen
Proleten". Gelegentlich wird sogar das Recht auf Häßlichkeit in
geradezu ostentativer Weise wahrgenommen. Dies wiederum im
Unterschied zur Mehrheit der Ausländer, die sich kaum mit Fummel
schmücken.
Kein Zufall, daß sich die
Fremdenfeindlichkeit mit möglichst
abstoßendem Outfit maskiert und zugleich demaskiert: kahlgeschoren,
so roh wie möglich aufgemacht, ungetarnt, Jugendgewalt in Reinkultur -
und das im freigewählten Bekenntnis zum Urbild des häßlichen
Deutschen.
Wer sich mit dem Thema
"Benehmen" beschäftigt, merkt
jedenfalls rasch, daß er einen Spiegel der Gesellschaft in der Hand hat.
Man sieht einiges schärfer. Wobei man vorsichtig sein muß. Die
Nivellierung, die Generaltendenz zur Gleichheit aller mit allen, hat auch
ihre Berechtigung, denn das gute Benehmen früherer Tage war auch auf
Rang- und Klassenunterschiede hin angelegt. Mit glatter Höflichkeit
kann man sich jemand vom Leibe halten und sogar demütigen. Es wäre
deshalb falsch, nur immer den Verfall der Werte zu beweinen. Die
Demokratie will eine egalitäre Gesellschaft, und in diesem Punkt
schneiden wir im internationalen Vergleich nicht schlecht ab.
Man muß allerdings sehen, um
welchen Preis dieser Prozeß in
Gang gekommen ist. Dabei ist sicher ein Stück Kultur auf der Strecke
geblieben. Um so verblüffender in diesem Zusammenhang das Ergebnis
einer Umfrage, nach der die deutschen Kinder selbst Wert auf gutes
Benehmen legen. Eltern oder Lehrer, die alles durchgehen lassen,
werden keineswegs geschätzt, eher verachtet. Im Schoß der Familie
liegen also die entscheidenden Probleme. Denn, wie eine kluge
Pädagogin bündig festgestellt hat: sie können nichts, was sie zu Hause
nicht gelernt haben. Man sollte sich vielleicht deshalb einen Grundsatz
des griechischen Philosophen Sokrates zu eigen machen, der zu einem
seiner Freunde einmal gesagt hat: Was macht es mir aus, höflicher zu
sein als du? |